Kalbitzer, Hellmut * 17.11.1913 in Hamburg Industriekaufmann | - ISK vor 1933, SPD ab 1945, - 2 Jahre Schutzhaft, |
Leben und Werk
Die Eltern von Hellmut Kalbitzer legten großen Wert darauf, ihrem Sohn eine gute Schulausbildung zu ermöglichen. Deshalb besuchte Kalbitzer unter anderem die Lichtwarkschule, die für ihren reformpädagogischen Ansatz bekannt war. Während seiner Schulzeit wurde Kalbitzer Mitglied einer Jugendgruppe des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK), die sich auf dem ausgebauten Dachboden einer Werkstatt traf. Zum ISK in Hamburg gehörten insgesamt etwa 30 Personen. Kalbitzer beteiligte sich aktiv an der Arbeit der Gruppe. Mindestens einmal in der Woche zog er von Tür zu Tür und verkaufte die ISK-Hefte. Sonntags nahm er an politischen und philosophischen Fortbildungskursen teil.Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten fuhr Kalbitzer, nachdem er das Abitur bestanden hatte, nach Elbing, um in der Zigarrenindustrie ein Praktikum, das ihn auf den Beruf des Kaufmanns vorbereiten sollte, zu absolvieren. Dort kontaktierte er ehemalige Leser der inzwischen verbotenen Tageszeitung des ISK. Im Sommer 1934 kehrte Kalbitzer nach Hamburg zurück, trat in die Zigarrenfabrik seines Vaters ein und traf sich regelmäßig konspirativ mit politischen Freunden. Auf diesen Treffen, die entweder durch gemeinsame Radtouren getarnt wurden oder in Privatwohnungen stattfanden, wurden die etwa handgroßen, auf Seidenpapier gedruckten, nach dem Decknamen ihres Verfassers Willi Eichler benannten vierseitigen Reinhart-Briefe der Auslandszentrale des ISK ausgetauscht und die aktuelle politische Lage diskutiert. Darüber hinaus produzierte die Gruppe mit Hilfe eines einfachen Vervielfältigungsapparates, der bei Kalbitzers im Keller stand, regimekritische Flugblätter und warf diese unter anderem von dem obersten Stockwerk eines Warenhauses in der Mönckebergstraße ab. Andere Gruppenmitglieder konstruierten einen großen Stempel, den sie auf der Unterseite eines Koffers befestigten. Mit ihm gingen sie durch die Stadt und setzten ihn von Zeit zu Zeit ab. Der Stempel hinterließ den Schriftzug: "Deutschlands Ruhe ist Totenruhe". Kalbitzer selbst klebte handgroße Plaketten mit dem gleichen Text und einem am Galgen hängenden Hakenkreuz zum Beispiel an die Altonaer Polizeikaserne.
Am 17. Dezember 1936 wurde Kalbitzer verhaftet. Die Gestapo war durch die Aussage seines ehemaligen Mitschülers Hans Prawitt, den er für die Arbeit des ISK geworben hatte und der sich bereits in Haft befand, auf ihn aufmerksam geworden. Bei den Verhören leugnete Kalbitzer solange alle Anschuldigungen, bis ihm klar war, was die Gestapo wusste. Wie andere Verhaftete lastete er manche Vorwürfe, um sich zu schützen, zwei emigrierten Genossen an, weil diese dem Zugriff der staatlichen Behörden entzogen waren. 15 Monate musste Kalbitzer in Untersuchungshaft warten, ehe der Prozess gegen ihn und einige andere Angeklagte, die er zum Teil nur dem Namen nach kannte, vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht eröffnet wurde. Wegen der Verbreitung illegaler Schriften erhielt Kalbitzer zwei Jahre Gefängnis. Neun Monate später kam er aus dem Gestapogefängnis Fuhlsbüttel frei, da die Untersuchungshaft auf die Haftzeit angerechnet wurde. Seine Frau Emmi, die 1934 zusammen mit einigen dem ISK nahe stehenden Freunden in Hamburg, gegenüber der Börse, eine vegetarische Gaststätte eröffnet hatte und die wegen ihrer politischen Arbeit 1938 verhaftet worden war, sah er erst 1940 nach ihrer Haftentlassung wieder.
Im Jahr 1941 begann eine neue, für Kalbitzer entscheidendere Phase des Widerstandes. Waren bisher politische Illusionen und der Wille, sich von den Nationalsozialisten nicht unterkriegen zu lassen, bestimmend gewesen, schien es Kalbitzer nun angesichts der veränderten Kriegslage sinnvoll, Vorbereitungen für einen demokratischen Neuanfang zu treffen. Zusammen mit seiner Frau hoffte er auf eine rasche Niederlage Deutschlands und knüpfte Kontakte zu Gleichgesinnten. Unter ihnen war Käthe Plume, die aus der Gewerkschaftsjugend in Bergedorf stammte und es verstand, auf Menschen zuzugehen und vermeintlich naiv die nationalsozialistischen Parolen zu entlarven. Als geeignet, politische Verantwortung nach dem Krieg zu übernehmen, betrachtete Kalbitzer auch Wilhelm Heidsiek und Heinz Güsmann. Beide kannte er aus seiner Haft. Desgleichen führte Kalbitzer Gespräche mit Paul Bebert, der ihn nach 1933 mit von der Exil-SPD ins Reich geschmuggelten Broschüren versorgt und der wegen seiner politischen Aktivität zweieinhalb Jahre im Zuchthaus gesessen hatte. Über ihn bekam Kalbitzer Zugang zu gewerkschaftlichen Kreisen, insbesondere zu Konstantin Mack, einem Zimmermann aus Frankfurt am Main.
Die Tätigkeit in der Zigarrenfabrik ermöglichte es Kalbitzer, ausgedehnte Geschäftsreisen ins gesamte Reichsgebiet zu unternehmen. Somit hatte er Gelegenheit, in Berlin, Hannover, Göttingen, Bochum oder Köln mit politischen Freunden zusammenzukommen, was der Weitergabe von Erfahrungen und Informationen diente. Genauso wie seine Frau lebte Kalbitzer in der ständigen Gefahr, erneut verhaftet zu werden.
Kalbitzers Vater nutzte einen Aufenthalt in der Schweiz, wo seine lungenkranke Frau in einem Sanatorium weilte, für ein Treffen mit Erna Lange, die in Hamburg im ISK aktiv gewesen war und nach ihrer Emigration konspirative Verbindungen nach London aufgebaut hatte. Dort bestand seit 1941 die von ehemaligen Funktionären der deutschen Arbeiterbewegung gegründete "Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien". Die Informationen über diese Gruppe, die Kalbitzer von seinem aus Zürich zurückgekehrten Vater erhielt, waren ermutigend und eröffneten neue Perspektiven. Jetzt konnten sich Kalbitzer und seine Genossen als Mitglieder einer größeren politischen Gemeinschaft im In- und Ausland verstehen.
Durch eine Freundin seiner Frau, die wiederholt aus der Schweiz in mehreren Tagesetappen mit Regionalzügen nach Hamburg fuhr, um sich möglichst unauffällig zu verhalten, kam Kalbitzer in den Besitz einer zweiseitigen Resolution der in London tätigen Union, die zur Einheit der politisch links stehenden Gruppierungen aufrief. Diese Forderung bezog sich zum einen auf die Illegalität, schloss zum anderen aber auch die Zeit nach der Befreiung ein. Kalbitzer war derselben Meinung und sorgte mit großem Einsatz für die Verbreitung des Aufrufes in Hamburg und Umgebung.
Bis 1943 gelang es Kalbitzer, der zunächst als wehrunwürdig galt, nicht zum Kriegsdienst einberufen zu werden. Erst bei seiner dritten Musterung wurde er als kriegsverwendungsfähig eingestuft. Mittlerweile zu einem wichtigen Ansprechpartner für seine Genossen avanciert, beriet er mit Paul Bebert, wie am besten vorzugehen sei, und entschied sich letztlich, dem Einberufungsbefehl keine Folge zu leisten. Mit Hilfe von Alfred Stange, der beim Wehrbezirkskommando Altona als Schreiber dienstverpflichtet war und nach 1945 das Landesarbeitsamt in Hamburg leitete, schaffte Kalbitzer es, seine Militärakte aus dem Verkehr zu ziehen, und wies sich bei Kontrollen künftig mit seinem zwar echten, aber in Wahrheit nicht mehr aktuellen Wehrunwürdigkeitspass aus.
Anfang 1945 zeichnete sich das Ende des Krieges ab. Nun hieß es, die Zahl der Eingeweihten zu vergrößern, um nicht Einzelkämpfer zu bleiben. Vermittelt durch eine Freundin seiner Eltern machte Kalbitzer Bekanntschaft mit dem ehemaligen Redakteur der verbotenen SPD-Zeitung "Hamburger Echo", Johannes Richter, und mit dem früheren Polizeisenator Adolph Schönfelder. Mit ihnen versuchte er, die kommende politische Entwicklung einzuschätzen. Wenig später fand in einem Vorort von Hamburg erstmals eine größere sozialdemokratische Versammlung statt. An ihr nahmen etwa 30 bis 40 Personen teil.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Kalbitzer an der Neugründung der SPD in Hamburg beteiligt und von 1947 bis 1949 sowie von 1966 bis 1970 und von 1978 bis 1982 Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft. Dem Bundestag gehörte er von 1949 bis 1965 an. Von 1958 bis 1962 war Kalbitzer Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Als Entwicklungshelfer beriet er von 1970 bis 1975 einen afrikanischen Verlag in Kenia. Literatur:
Kalbitzer, Hellmut: Widerstehen und Mitgestalten. Ein Querdenker erinnert sich. Hg. v. Christiane Rix. Hamburg 1997; FuD, S. 79ff; HB, Bd. 4, S. 180f.
MW